Kurt Hiller:
Das Recht über sich selbst.
Nachdruck der strafrechtsphilosophischen Studie
aus  dem Jahre 1908.
Mit einleitenden Materialien
herausgegeben von Rolf von Bockel,

ISBN 978-3-932696-73-2, broschur,
180 Seiten, 14,80 Euro

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In seinen Memoiren schreibt Kurt Hiller (1885-1972) über die Entstehung seiner Arbeit:
„Beim Studium des in Deutschland geltenden Strafrechts entdeckte ich plötzlich, daß die Befugnis des Individuums, körperlich über sich selbst zu verfügen und über andere voll Willensfähige mit deren freier und ernstlicher Zustimmung, gar auf ihre flehentlichen Bitten, an allen Ecken und Enden unsres Gesetzbuches verneint und verweigert wird. Das Freiheitsfeindliche, Gedankenlose, Barbarische dieses legalen Zustands erschütterte mich, und ein Zwang überkam mich, ihn mindestens aufzudecken.“
Hiller verfaßte darauf die Schrift Das Recht über sich selbst. Mit einem Auszug, unter dem Titel Die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes, promovierte er bei der „hohen juristischen Fakultät der Grossherzoglich Badischen Universität Heidelberg“ (Referent: Karl von Lilienthal).
Zuvor war Hiller in Berlin mit seiner Arbeit von Professor zu Professor fortgelobt worden. Strafrechtler Franz von Liszt (1851-1919) äußerte: „Es ist doch eine typisch philosophische Doktorarbeit und keine juristische“. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) entgegnete: „Eine sehr interessante Sache (...), nur ist es eine typisch juristische Doktorarbeit“.

Gliederung der Hillerschen Arbeit:
I. Die Voraussetzungen kritisch-normativer Strafrechtswissenschaft    1-4
II. Das Problem    4-9
III. Selbstmord    10-32
IV. Selbstverstümmelung    32-33
V. Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord; amerikanisches Duell    34-42
VI. Tötung des Einwilligenden; Zweikampf    42-61
VII. Strafbarer Heterosexualverkehr, insbesondere Inzest    61-67
VIII. Homosexualverkehr    67-89
IX. Bestialität    89-91
X. Fruchtabtreibung    91-101
XI. Das Sittliche    101-108
XII. Ergebnis    108-110
Literatur    111-114

Unter den akademischen Bedingungen des Kaiserreichs vermochte es hier keiner, sich des brisanten Inhalts anzunehmen. Auf Anraten von Georg Simmel reichte Hiller die Arbeit bei einem „jungen Privatdozenten“ an der Heidelberger juristischen Fakultät ein. „Ich handelte entsprechend“, schrieb Hiller rückblickend. „Der junge Privatdozent hieß Gustav Radbruch - vierzehn Jahre danach war er Reichsjustizminister. Er befürwortete meine Arbeit wirklich und setzte sie bei der Fakultät durch.“
Jedoch wurden hier nur die ersten fünf Kapitel als Dissertation anerkannt. Hiller selbst bewertete den Vorgang im Nachhinein: „Sonderbar genug, daß in der Wilhelmszeit überhaupt eine deutsche Universität existierte, die mein Opus angenommen hat; aber es zeigte sich, daß selbst die linkste des Reichs (das war Heidelberg damals) Gewisses nicht wagte. Liberal sein hieß leider: bloß gemäßigt-konservativ sein, statt tollwütig-konservativ. Kritisch-progressiv sein, ohne revoluzz-radikal zu sein, hieß es keineswegs“.
Hillers Arbeit bleibt bis in unsere Zeit aktuell. „Als Kurt Hiller 1908 mit der Schrift Das Recht über sich selbst (...) die literarische Bühne der Juristerei betrat“, schreibt der ehemalige Präsident des Landessozialgerichts Bremen, Prof. Dr. Ruprecht Großmann 1992, „legte er mit einem Schlag das Elend des kaiserlichen Strafrechts bloß. Er rügte die Haltlosigkeit der zugrundeliegenden Geschichts- und Gesellschaftsauffassung und bewies, daß bisher als klassisch angesehene Strafandrohungen entweder aus strafrechtsimmanenten Konsequenzen oder aus übergreifenden kritisch-philosophischen Gründen keine Rechtfertigung hatten“.
Grundlegende Bedeutung zeitigte die Arbeit über den rein strafrechtsphilosophischen Aspekt hinaus auch in philosophischer, literaturtheoretischer, politischer und vor allem sexualreformerischer Hinsicht:
In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg avancierte Hiller zum Theoretiker des literarischen Expressionismus. Das Plädoyer für eine „neue Geisteshaltung“, ohne ins Metaphysische irgendwelcher Religionen abzudriften, kennzeichnet seine literaturtheoretischen Essays. Vor dem Hintergrund wilhelminischer Konventionen und der Moralkritik Nietzsches leitete er von seinem Individualrechtsgedanken ein mit vitalen Inhalten gefülltes, „neues Pathos“ ab, - fern jedes „leidenden Gebärdengangs“.
Nach dem Ersten Weltkrieg trat Hiller als Mitarbeiter der Weltbühne und als Protagonist der Friedensbewegung für Kriegsdienstverweigerung ein und sprach sich gegen die „allgemeine Wehrpflicht“ aus, - als eine durch nichts zu rechtfertigende staatlich verordnete Zwangsmaßnahme gegenüber das Selbstbestimmungsrecht.
Als Staatsphilosoph griff er die verschiedenen Facetten des Gewaltproblems auf und überprüfte staatliche und soziale Strukturen mit kritischem Blick darauf, inwieweit die von ihnen organisierten Individuen größt mögliche Entfaltungsmöglichkeiten erhalten (Stichworte: „Logokratie“, „ethischer Sozialist“, Sozialismus und Individualrechte).
Als Sexualstrafrechtsreformer trat er entschieden für die Abschaffung des Paragraphen 175 ein, der Homosexualität unter Strafe stellte, und begleitete Magnus Hirschfelds Arbeit. Seine rechtsphilosophische Begründung des Selbstbestimmungspostulats fand nachhaltige Beachtung in „radikalen Kreisen der bürgerlichen“ Frauenbewegung (vor allem Helene Stöcker).
Allein diese biographischen Stichworte weisen darauf hin, daß - über den strafrechtsphilosophischen Aspekt im engeren Sinne hinaus - seine Dissertation eine wesentliche Konstante seiner politischen, literarischen und gesellschaftsphilosophischen Publizistik vorwegnahm: Das Recht über sich selbst auch als normativer Bezugspunkt in politischen Handlungskonzepten.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg war die Schrift vergriffen und wurde seitdem nie wieder gedruckt. Das Recht über sich selbst liegt nur in wenigen Bibliotheken vor. Selten wird es antiquarisch angeboten.
Aus Anlaß des 100sten Jubiläums ihrer Erstveröffentlichung legt der von Bockel Verlag in Zusammenarbeit mit der Kurt Hiller Gesellschaft die bedeutende strafrechtsphilosophische Schrift als Reprint wieder vor.

Die aktuellen Diskussionen um Patientenverfügung, Festplatten-Ausspähung durch Geheimdienste, Einschränkung von Freiheitsrechten wegen vermeintlich „übergeordneter“ Staatsinteressen (Stichwort: „Anti-Terrorkampf“), Sterbehilfe, Überwachung von Konsumverhalten durch EG-Behörden und Kassenscanner, biometrische Daten auf Personalausweisen, Legalisierung von Drogen u.a.m. verleihen Hillers Studie Das Recht über sich selbst 100 Jahre nach dem ersten Erscheinen eine bedrückende Aktualität.

 „Der vernünftige Mensch wird nie verkennen, daß die soziale Ordnung ihm verbieten muß, mit seinen willkürlichen Dispositionen schädigend in die Sphären anderer einzugreifen; aber nie wird er es verstehen, warum der Staat ihn dort antaste, wo er niemanden - auch die abdifferenzierten Interessen des Staates nicht! - verletzt.“
Kurt Hiller, 1908



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